Geborgen bei der »Mama-san«

von Carsten Germis

Ich habe in Tokio schon am ersten Abend einen Ersatz für mein geliebtes »Härcke-Eck« in Peine gefunden. Mein neuer Kollege Tadayoshi Hayasaki hat mich gleich mitgenommen in seine Stammkneipe, das »Komachi«. Die japanische Kneipe oder Izakaya (居酒屋) ist der beliebteste Ort zum Ausgehen. Das habe ich schnell gesehen. Vor allem Freitag abend nach Arbeitsschluss gehen viele Japaner mit ihren Kollegen auf einen Drink in die nächste Kneipe.
Der Name Izakaya setzt sich zusammen aus i (sitzen) und sakaya (Sake-Geschäft) und bedeutet damit soviel wie »Sake-Laden zum Sitzen«, hat mir Tadayoshi-san erklärt. Sake ist der japanische Reiswein, von dem es mindestens soviele Geschmacksrichtungen und Sorten gibt wie bei Wein. Mit dem billigen Fusel, der einem in deutschen Sushi-Restaurants oft vorgesetzt wird, hat dieser Sake wenig gemeinsam. Das »Komachi« ist eine besondere Form von Kneipe, betrieben von zumeist älteren Frauen, den Mama-san. Diese Kneipen sind für viele japanische Männer, vor allem für Männer über 50, so eine Art zweites Zuhause. Sie sind der Ort, wo die japanischen Männer ihr Herz ausschütten.

Japans Männer haben es schwer. Der Druck bei der Arbeit ist groß, in der Familie haben viele nichts zu melden. Da sind versteckte traditionelle Fluchtorte bei älteren Angestellten beliebt. Die Wirtinnen haben für die Männer immer ein offenes Ohr. Das Vorbild für das »Komachi« im Roman habe ich im April 2011 nach dem verheerenden Erdbeben in der nordostjapanischen Hafenstadt Sendai entdeckt. Damals hat mein Autor für die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« und für die »Neue Zürcher Zeitung« darüber berichtet. Hier – in Auszügen – seine Geschichte über die Mama-san:

»Mit einem Seufzer lässt sich Tadayashi Hayasaki in den Stuhl am Tresen im »Komachi« plumpsen. Die anderen sechs Plätze an der Theke in der kleinen Kneipe von Keiko Sasaki sind bereits besetzt. Geschäftsmänner wie Hayasaki sitzen da. Sie haben ihre dunklen Kittel lässig über die Lehnen gehängt. Sie essen Hausmannskost und trinken Sake. Keiko Sasaki, die im leichten dunkelblauen Kimono alleine hinter dem Tresen steht, wird von ihren Gästen liebevoll Mama-san genannt. Für jeden hat die Wirtin ein offenes Ohr.

Unaufgefordert stellt sie vor Hayasaki eine Schale mit Sake ab und schenkt ihm mit einem Lächeln ein. Er nimmt die Hornbrille ab und begrüsst die Mama-san. »Ich komme jede Woche nach der Arbeit«, sagt der Architekt, der in einem der bekanntesten Architekturbüros Sendais arbeitet. Hayasaki sitzt mindestens zweimal die Woche am Tresen im »Komachi«. An den anderen Abenden besucht er andere Mama-san. »Hier, nur hier kann ich richtig entspannen«, meint er. Die Nachbarn, die gerade ihren zweiten Sake bestellt haben, lockern ihre Krawatten und lauschen, was Hayasaki erzählt. Zustimmendes Nicken ist ihre Antwort.

Stets ein offenes Ohr

Die Mama-san sind ein Phänomen im sozialen Leben Japans, das es so vermutlich in keinem anderen Land der Welt gibt. Ihre kleinen Kneipen sind schwer zu finden. Fremde verirren sich nur selten hierher. Auch der Weg zum »Komachi«, inmitten des Vergnügungsviertels von Sendai gelegen, ist nicht leicht zu finden. Er führt durch kleine, abgelegene Gassen. Von draussen ist die Kneipe kaum zu erkennen. Die grellen Leuchtreklamen, mit denen normale Izakaya, japanische Kneipen, ihre Gäste anziehen, finden Besucher in diesen Gassen nicht.

»Eine Mama-san kennt ihre Gäste gut und hat immer ein offenes Ohr für sie«, sagt die deutsche Japanologin Helga Sentivany. »Die Gäste können sich auf die physische und psychische Rundumversorgung durch ihre Mama-san verlassen.« Sentivany hat diesem Phänomen eine Studie gewidmet. Die Kunden sind zumeist ältere verheiratete Männer. Auch die Gäste von Keiko Sasaki haben ihren 50. Geburtstag zumeist schon hinter sich gebracht. Im Berufsleben haben diese Männer fast alle Positionen inne, in denen sie Frauen herumkommandieren. Doch bei ihrer Mama-san gebärden sie sich wie kleine Buben, schimpfen, klagen und weinen bisweilen sogar. »Auf jeden Fall tun sie alles, um sich die Zuwendung und das Wohlwollen der Mama-san zu erhalten«, berichtet Sentivany in ihrer Untersuchung.

»Mama-san erfahren viel«

Sasaki-san widmet sich jedem ihrer Gäste mit derselben Aufmerksamkeit. »Sie ist immer freundlich und verständnisvoll«, berichtet Hayasaki. »Sie sagt aber auch ihre Meinung.« Er trinkt einen Schluck von seinem Sake, beobachtet die Wirtin, die sich gerade angeregt mit den beiden Männern am Ende des Tresens unterhält. »Mama-san wissen unwahrscheinlich viel«, sagt er. Hier können die Männer über ihre Vorgesetzten schimpfen, unsinnige Projekte ihrer Unternehmen beklagen oder einfach nur um Rat bitten. Überall sonst würden sie in Japan damit ein Tabu brechen.

Bis auf Sonntag hat Sasaki-san, die 64 Jahre alt ist, jeden Abend geöffnet. Sie liebe ihre Gäste, sagt sie. Sie höre ihnen gerne zu. »Irgendwie sind wir alle so etwas wie eine Familie.« Die Gäste brauchen sie, aber sie braucht auch ihre Gäste. Die meisten Mama-san sind alleinstehend, verwitwet, geschieden oder nie verheiratet gewesen. Ihre Arbeit ist ihr Leben.

Mütterliche Akzeptanz

Was ist in den japanischen Familien los, dass so viele erfolgreiche Angestellte abends erst durch dunkle Gassen zu den Mama-san eilen, bevor sie zurück nach Hause gehen? Nicht nur böse Zungen behaupten, dass japanische Männer ewig Muttersöhne blieben und niemals erwachsen würden. Zu Hause haben diese Männer nicht viel zu sagen. »Hier führt die Frau das Kommando, verwaltet das Haushaltsgeld und erzieht die Kinder. Der Mann hat im Haushalt keine Rechte, aber auch keine Pflichten«, erklärt Sentivany. Bei der Mama-san finde der japanische Mann das, was er bei seiner Frau vermisse, nämlich vorbehaltlose mütterliche Akzeptanz.

Satoko Sukawa, deren Kneipe »Sato« auch im Vergnügungsviertel von Sendai liegt, bestätigt das. Am Arbeitsplatz müssten diese Männer funktionieren, sagt sie über ihre Gäste. Der soziale Gruppendruck ist in Japan unvergleichbar größer als in Europa oder in den Vereinigten Staaten. Kritik, abweichende Meinungen, gar abweichendes Verhalten sind nicht geduldet und werden hart sanktioniert. Und zu Hause geht es genauso weiter.

Das »Sato« ist abgelegen im zweiten Stock eines alten Hauses. Von aussen wirkt der Ort nicht gerade einladend. Doch drinnen ist es gemütlich. Es gibt einen Tresen für sieben Personen, dazu einen kleinen Tisch. Das Essen ist einfach, aber gut. Sukawa serviert Sashimi, rohen Fisch, wie man ihn kaum in einem der Edelrestaurants Sendais findet. Der Sake, den sie ausschenkt, ist nicht der Billig-Reiswein, der in den Supermarktregalen steht. Präzise Abrechnungen, Kassabons gar, gibt es bei einer Mama-san nicht. Oft hat sie selbst keinen Überblick mehr, wer hier was verzehrt hat. Es geht eben zu wie in einer Familie, man vertraut sich gegenseitig.

Freiheit in Geborgenheit

Für die Japanologin Sentivany sind die Mama-san ein kleiner Kosmos, ein Abbild der traditionellen japanischen Gesellschaft, die trotz aller äusseren Modernisierung überlebt hat. Japan ist in nur einem Jahrhundert von einem abgeschotteten Feudalstaat zur zweitgrössten Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen. »Was hat sich im sozialen Leben wirklich verändert?«, fragt Sentivany. Dass Japaner sich viel stärker an der Gruppe orientieren, dass deren hierarchische Gliederung bis heute feudalistische Züge hat, darüber berichten Ausländer, die in japanischen Unternehmen arbeiten, immer wieder. Doch es gibt in Japan auch eine besondere Ausprägung der zwischenmenschlichen Beziehungen. »Amae« ist der Begriff im Japanischen dafür, Freiheit in Geborgenheit. »Amae« bedeute Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, im selbstverständlichen Vertrauen auf das uneingeschränkt duldsame, nachsichtige Wohlwollen der Bezugsperson, mit der man sich als Einheit erlebe, sagt die Japanologin im feinsten Wissenschaftsdeutsch.

Die von Mama-san betriebenen Kneipen finden sich oft in den Vergnügungsvierteln oder in der Nähe der Bahnhöfe. Sie gehören zum »mizu shoobai«, dem sogenannten Wassergewerbe. Dazu zählen Japaner alles, was mit dem Unterhaltungsgewerbe zu tun hat, bis hin zur Prostitution. Manche Mama-san hat ihre ersten Erfahrungen mit Männern auch in der Rotlichtszene gesammelt. Sukawa und Sasaki gehören nicht dazu. Sukawa ist eine der wenigen Mama-san, die sich eine junge Angestellte leisten. Eri Akasaka ist 21 Jahre alt, stammt aus der nahen Nordprovinz Aomori und ist froh, in Sendai nach der Schule diesen Job gefunden zu haben. Junge Menschen kämen nur selten in die Kneipe, berichtet sie. Die ziehen es vor, mit Freunden in eine Izakaya zu gehen. Wer mit Freunden loszieht, der braucht keine Mama-san, die einem zuhört und mit einem spricht. Zudem sind die Izakaya preiswerter.

»Erklären, wie die Welt ist«

Sukawa ist jetzt bald ein Vierteljahrhundert im Geschäft, und sie ist sich sicher, dass die Mama-san überleben werden. Eine gute Mama-san hat ihre Kneipe fast jeden Abend voll. Sobald die heute jungen Männer die Mitte 40 überschritten und ein bisschen Karriere gemacht hätten, suchten sie eine Mama-san zum Anlehnen, meint Sukawa. Und Nachwuchs gibt es ja auch. »Ich gewöhne mich daran, mit den Männern zu sprechen«, sagt Eri. Sie sei für die älteren Männer so etwas wie eine Tochter. Der schütte man bisweilen auch sein Herz aus. »Und manchmal geniessen sie es auch einfach nur, dass sie mir erklären können, wie die Welt funktioniert«, sagt sie lachend.

Es ist kurz nach halb elf. Im »Komachi« ziehen sich die Männer die Kittel an und machen sich auf den Heimweg. »Bis morgen im Büro«, rufen sich einige zum Abschied zu. Nur Hayasaki bestellt noch einen Sake bei der Mama-san. Jetzt hat er sie endlich alleine für sich. Schliesslich gibt es nach dem anstrengenden Tag noch so viel zu erzählen. Erwartungsvoll setzt er seine dunkle Hornbrille wieder auf, während Sasaki ihm einschenkt.

Genauso habe ich mein »Komachi« erlebt, auch wenn meine Eri Akane heißt und fast fließend Deutsch spricht. Wer eine Mama-san kennenlernt, fühlt sich in Japan jedenfalls schnell geborgen und zuhause. Ich weiß, wovon ich spreche...

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