Polizeirat Ohno erklärt Japans Kriminalität

von Carsten Germis

Es ist merkwürdig, statistisch wird in keinem entwickelten Industrieland so wenig gemordet wie in Japan. Mehr noch – Gewaltkriminalität, Diebstahl – überall steht das ostasiatische Land vorbildlich da. Und ich stolpere gleich an meinem zweiten Tag über einen Mord? Kann das sein? Mein Autor hat darüber mit dem Vizechef der Mordkommissionen in Tokio gesprochen, bevor er sich daran machte, meine Abenteuer aufzuschreiben. Der Polizeichef berichtete dabei auch über seinen liebsten japanischen Krimiautor und über den kleinen Unterschied zwischen »Fact and Fiction«.

Kenji Ohno, Superintendent bei der Tokyo Metropolitan Police,  ist Vizechef der Kriminalabteilung der Polizei in der japanischen Hauptstadt. 400 Mitarbeiter hat er – von der Spurensicherung über Computerspezialisten bis hin zu Chemikern und Biologen für die DNA-Analyse sind Japans Kriminalisten technisch führend in der Welt. Ohno, der mit seiner Abteilung im Hauptquartier der städtischen Polizei am Kaiserpalast in Tokio sitzt, wird bei Mord nur dann herangezogen, wenn die Tat in der japanischen Hauptstadt Schlagzeilen in den Medien macht. Kommt das Verbrechen mit großen Artikeln in den Zeitungen, ist der Opfer ein Prominenter – dann kümmert sich die Zentrale um den Fall. Ein »normaler Mord« landet dagegen bei den Kripobeamten in den örtlichen Polizeirevieren. Ohno, ein kräftiger Mann mit kantigem Schädel, ist das Bild eines Kripomanns, der in jeden Roman passt.  Er hätte  das Zeug zum Krimihelden in jedem Roman. Im Gespräch verzieht er keine Miene. Kein Lächeln, kein Zwinkern mit den Augen – während dieses Treffens freue ich mich, den Kriminalisten  nur zum Interview zu treffen. Als Beschuldigter im Verhörraum wäre mit diesem Mann nicht zu spaßen, denke ich mir.

Beziehungstaten nehmen zu

»Die Zahl der Tötungsdelikte in Tokio geht seit Jahren zurück«, berichtet Ohno. 108 waren es im vergangenen Jahr, 10 weniger als im Vorjahr. Die Grafiken, die der Polizist zeigt, weisen seit zehn Jahren nach unten. Im Schnitt der letzten Jahre gingen etwa 20 Prozent von Mord und Totschlag auf das Konto von Bandenkriegen verfeindeter Gruppen der Yakuza – wie die japanische Mafia genannt wird. Die Tendenz ist hier aber deutlich sinkend, seit die Politik den Kampf gegen die organisierte Kriminalität verstärkt hat. In Tokio, wie in anderen Ländern morden die meisten Menschen in der Familie oder im Bekanntenkreis. »Beziehungstaten nehmen in letzter Zeit zu«, berichtet Ohno. »Das gilt auch für die Verbrechen, die mit Drogen zu tun haben.« Insgesamt aber geht die Zahl der Tötungsdelikte in Tokio seit Jahren zurück. Das Bedürfnis, jemanden zu ermorden, mögen die Japaner genauso kennen wie Amerikaner, Deutsche oder Briten. Aber sie geben dem Bedürfnis nicht so leicht nach.

Die Zahlen sind eindeutig. In keinem Land wird so wenig gemordet wie in Japan. Das Weißbuch über Kriminalität 2013 bestätigt diesen Befund. Verglichen mit den Vereinigten Staaten – dem Spitzenreiter –, mit Großbritannien, Frankreich oder Deutschland ist Japan – Mord, Totschlag zusammen genommen – nahezu ein Paradies. Selbst in der Bundesrepublik wird gut drei Mal mehr gemordet als in dem ostasiatischen Land. In den Vereinigten Staaten wird sogar acht Mal so oft getötet. Die Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten liegt in Japan bei 97,7 Prozent. Nur die deutsche Polizei kann da mit 96,1 Prozent mithalten. In den Vereinigten Staaten werden dagegen nur 64,8 Prozent dieser Delikte gelöst. Unter Japanern, das zeigen die internationalen Vergleichszahlen seit Jahren ganz deutlich, sind Mord und Totschlag seltener als anderswo.

Warum ticken die Uhren in Japan anders?

Warum ist das so? Sozialwissenschaftler beschäftigen sich seit Jahren mit dem Phänomen, dass es in Japan generell weniger Verbrechen gibt. Die Theorien westlicher Kriminologen, die einen engen Zusammenhang zwischen sozialen Spaltungen der Gesellschaft und Kriminalität festgestellt haben, verfangen in dem Land der aufgehenden Sonne nicht. Offensichtlich gibt es auch eine kulturelle Dimension des Verbrechens. Die japanische Kultur der Scham mag nicht so anfällig sein für Kriminalität. Zudem sind Harmonie und Gruppenzugehörigkeit immer noch stärker ausgeprägt. Der norwegische Soziologe Dag Leonardsen hat sich mit der Frage »Verbrechen in Japan – eine Lektion für die kriminologische Theorie?« ausführlich mit dem Sonderstatus des ostasiatischen Landes beschäftigt. Neben strukturellen Faktoren wie Modernisierung und Verstädterung scheint es demnach auch eine kulturelle Dimension des Verbrechens zu geben. Wie anders ließe sich erklären, dass Plünderungen nach Naturkatastrophen in Japan stets Ausnahmefälle waren, während in anderen Ländern nach solchen Katastrophen das Militär allein die Ordnung noch aufrechterhalten und Plünderungen verhindern konnte?

Und doch ist das subjektive Sicherheitsgefühl vieler Menschen in Japan – vor allem in der Hauptstadt Tokio – ganz anders. Selbst in abgelegenen Landesteilen gibt es Selbsthilfegruppen, die regelmäßig Patrouillen machen – und genau Buch darüber führen, wie viele Wohnungseinbrüche es im Viertel gegeben hat. Das hat viel zu tun mit der Politik. Obwohl die Zahlen von Mord und Totschlag in Tokio seit Jahren sinken, wächst die Angst. Der frühere nationalkonservative Gouverneur der Stadt, Shintaro Ishihara, hat in einem Zeitungsartikel vor wenigen Jahren vorgemacht, wie eine solche Stimmung geschaffen wird. Da sprach er vom »Zusammenbruch der öffentlichen Sicherheit« – eine Folge der Globalisierung und der vielen Ausländer – wobei es in Japan bis heute praktisch keine Einwanderung gibt und die Zahlen nicht bestätigen, was er als Gefahr an die Wand malte.

Lieblingsautor Keigo Higashino

Auch wenn Japan also ein Land mit geringer Kriminalität ist, wo eine im Café liegengelassene Kamera selbst nach drei Stunden immer noch auf dem Tisch liegt oder von einem aufmerksamen Besucher abgegeben wurde, ist die öffentliche Wahrnehmung anders. Zudem boomt der Krimimarkt. Jeder Besuch in einer Buchhandlung beweist es: In wohl kaum einem anderen Land verschlingen Leser so viele Kriminalromane wie in Japan. Zu den vielen heimischen Autoren kommen Übersetzungen – auch deutsche Autoren wie Nele Neuhaus oder Volker Kutscher haben hier ihre Fans. Kripo-Chef Ohno schwört auf den Japaner Keigo Higashino. Higashino ist in Japan einer der populärsten Krimiautoren, aber leider gibt es von ihm – wie von vielen anderen Krimiautoren aus Japan – kaum Übersetzungen. In Deutschland hat Klett Cotta unter dem Namen »Verdächtige Geliebte« im vergangenen Jahr den ersten Band von Higashinos  preisgekrönten »Detektiv-Galileo«-Reihe auf den Markt gebracht. Für den Praktiker Ohno ist Higashino derzeit der beste japanische Krimiautor.

Bei der Frage, wie viel die japanischen Krimis mit der Wirklichkeit der Polizeiarbeit zu tun haben, muss Ohno zum ersten Mal lachen. »Nichts«, sagt er nur und winkt ab. »Das ist sehr weit weg von der Wirklichkeit.« Im Krimi steht stets ein einzelner Kommissar im Mittelpunkt, der genial den Fall löst und den Verbrecher überführt. In der Wirklichkeit sind es mehrere Dutzend Kriminalisten, die – jeder auf seinem Gebiet – die Puzzleteile eines Falls zusammentragen. Außerdem würden Verdächtige nie so schnell gestehen wie im Roman. »Die leugnen bis zuletzt.« Die größte Veränderung bei Mordentwicklungen hat nach Angaben Ohnos in den letzten Jahren aber  nicht die DNA-Analyse gebracht. Was in Mordfällen in jüngster Zeit immer stärker an Bedeutung gewinnt, ist die Überwachung des öffentlichen Raums durch Kameras. »Da hat sich technisch viel geändert.« Es habe schon Fälle gegeben, wo sich die Wege von Opfer und Tätern über Tage genau zurückverfolgen ließen – und allein die Durchsicht der Videoaufnahmen geholfen hat, den Fall zu lösen. Ohno zuckt mit den Schultern. Er sagt es nicht, aber insgeheim scheint auch der Vizechef der Kripo in Tokio davon zu träumen, seine Arbeit hätte etwas mehr mit der Wirklichkeit im Kriminalroman zu tun.

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